Die Erfindung des Rades

Mein afghanischer Bekannter, der als Kind von seinen Eltern aus Afghanistan nach Deutschland verschleppt wurde und in Hamburg aufgewachsen ist, erzählte mir einmal, dass seine Eltern, die ein gut gehendes indisches Restaurant in Hamburg führten, selbst noch nie essen gegangen waren, kein einziges Mal in zwanzig Jahren. Wenn sie auskundschaften wollten, wie es bei der Konkurrenz schmeckte, schickten sie ihren assimilierten Sohn.

„Asiaten sind ortsgebundene, häusliche Leute, sie essen am liebsten das, was ihnen ihre Mutter, ihre Frau oder ihres Schwester zubereitet hat“, klärte mich mein afghanischer Freund auf.

Sogar die Computer-Inder, die in den großen europäischen oder amerikanischen Firmen arbeiten, gehen in der Mittagspause nicht in die Pizzeria, sie essen das, was sie von zu Hause in einer Dose mitgebracht haben. Mein arabischer Freund musste als Kind zusammen mit seinen Eltern Palästina verlassen, weil ihr Dorf unglücklich zwischen die Fronten geraten war und Woche für Woche von zwei Seiten beschossen wurde. Er geht selten essen, dann aber richtig. Tagelang kann er sich nur von trockenem Brot und Leitungswasser ernähren, aber am Wochenende geht er aus und feiert dann gleich die ganze Nacht durch, das gesamte Programm aus 1001 Nacht auf fünfeinhalb Stunden komprimiert. Seinen Lebensstil erklärt er mit seinen Vorfahren, die angeblich Nomaden waren. Sie ritten auf ihren Kamelen durch die Wüste auf der Suche nach einer Oase. Unterwegs konnten sie viel ertragen, aber die Oase musste dann auch den kühnsten Erwartungen standhalten. Dubai ist solcher wahr gewordener Traum von einer perfekten Oase in der Wüste. Wer diese Stadt kennt, weiß, wovon ich spreche.

Ganz anders verhält es sich mit meinen deutschen Freunden, die jeden Tag woanders essen. Die meisten Berufsgruppen sind in Deutschland mobil, d.h. permanent am Ausgehen: Kleinhändler, Messerveranstalter, Versicherungsvertreter, Lohnarbeiter, Steuereintreiber, Beamte aus zahllosen Ämtern. Sei haben ein eigenes Nomadentum entwickelt, dessen Oase „Gemütlichkeit“ heißt. Die deutsche Gemütlichkeit ist sehr speziell und bedeutet in der Regel die Möglichkeit, an jeder Ecke und zu jeder Zeit in gut beheizten Räumen deftige Sachen zu essen, die eine längere Verdauungszeit in Anspruch nehmen. Zum Beispiel Schweinebauch mit Pfefferknacker und Sauerkraut auf Kartoffelsalat. Oder geräucherte, kurz angebratene Gänsebrust mit Pellkartoffeln und Bohnen oder Eisbein oder was weiß ich - das bringt uns jetzt nur vom Thema ab.

Die Beamtennomaden haben eine intakte Infrastruktur für die lückenlose Zubereitung und den Verzehr von deftigen Sachen entwickelt, d.h. das Land flächendeckend mit kleinen rustikalen Kneipen überzogen, um maximale Gemütlichkeit mit minimalstem Aufwand zu erreichen. Für eine vollkommene Gemütlichkeit braucht man allerdings ein paar Bier und ein paar Schnäpse hinterher. Das macht das Fahren schwierig. Um sich in der Kneipe einen hinter die Binde kippen zu können und trotzdem mobil zu bleiben, haben die Deutschen das Fahrrad erfunden. Es war der Mannheimer Adelige Karl Friedrich Christian Ludwig Freiherr Drais von Sauerbronn, der als Forstbeamter diente und nebenbei vor fast zweihundert Jahren das Fahrrad erfand! Die Russen, Chinesen und Engländer werden das bestimmt bestreiten.

„Der Glaubenssatz, dass das Fahrrad an mehreren Orten gleichzeitig erfunden worden sei, ist falsch. Es gab bloß gleichzeitig an mehreren Orten den chauvinistischen Drang, die Prioritäten zu fälschen“, schreibt Deutschlands berühmtester Fahrradexperte Professor Hans-Eberhard Lessing in seinem Buch Faszination Fahrrad.

Ich würde sagen, dass jedes Volk das Fahrrad bekommt, das seinem Selbstverständnis am besten entspricht, seinen Vorstellungen von Mobilität. Jedem Volk sein Fahrrad. Das deutsche Rad, „die Laufmaschine von Drais“ genannt, war sicher und bodenständig. Es konnte unter keinen Umständen kipppen, da der Fahrer mit beiden Füßen auf der Erde stand. Die Erfindung von Drais wurde aus der Notwendigkeit geboren und hatte eine Naturkatastrophe zum Hintergrund. Anfang des 18. Jahrhunderts ereignete sich eine Vulkanexplosion auf den Sunda-Inseln, die Unmengen von Asche in die Atmosphäre schleuderte: Der Himmel wurde schwarz, und mitten im Sommer lag überall Schnee auf den Feldern. Es ging in Richtung globale Erkältung, der Hafer wurde knapp, die Menschen hungerten, und viele Pferde mussten notgeschlachtet werden. Um die schwindende Gemütlichkeit wiederherzustellen, erfand Karl Friedrich Ludwig seine Laufmaschine – zwei Holzräder hintereinander, ohne Kette und ohne Pedale, dafür aber mit einer Seilbremse. Man musste sich mit beiden Füßen vom Boden abstoßen, um die Laufmaschine in Bewegung zu setzen.

Dadurch hat der Erfinder eines der größten Probleme der damaligen Zeit geschickt umgangen: das Problem der Balance. Die Deutschen des 18. Jahrhunderts waren das Balancieren nicht gewohnt. Männer hatten großen Probleme damit, und für Frauen galt das Balancieren gar als extrem unsittlich. Deswegen wurden sie in Deutschland auch bis in das 19. Jahrhundert hinein vom Schlittschuhlaufen ausgeschlossen. Der Erfinder der Laufmaschine absolvierte persönlich eine Probefahrt. Er fuhr dreizehn Kilometer von Mannheim nach Schwetzingen und zurück. Trotzdem verlief die Durchsetzung seiner Laufmaschine und ihre weitere Entwicklung nicht reibungslos. Zuerst hatten die Männer Angst, sich lächerlich zu machen. Später trauten sie sich sehr lange nicht, die Füße vom Boden zu nehmen, wenn sie auf der Laufmaschine saßen. Außerdem kursierten Gerüchte in der Öffentlichkeit, das Fahrradfahren impotent machen würde. Der Erfinder selbst wurde verleumdet und lächerlich gemacht, indem man ständig neue unglaubwürdige Geschichten über ihn erfand. Viel Zeit musste vergehen, bis sich die Mannheimer Erfindung verselbständigte und in millionenfacher Ausfertigung zum meistverkauften Fahrzeug der Welt aufstieg. Heute hat jeder Chinese ein Fahrrad und fast jeder Inder, die Araber haben dagegen kaum Fahrräder. Ich habe dafür zwei.

 

aus: Vladimir Kaminer: Liebesgrüße aus Deutschland, 2011, Wilhelm Goldmann Verlag, München